Wir möchten authentische Vorbilder sein
Ursula Kaufmann und Stefan Albrecht vom Schulleitungskreis der Waldorfschule Wien-Mauer im Gespräch über eine Pädagogik, die sich als Unterrichtskunst versteht, und darüber, warum ihre Schüler:innen so oft strahlend auf der Bühne stehen und sich dabei selbst entdecken.
Unsere Kinder lernen für sich und fürs Leben
Interview: Sandra Wobrazek, Oktober 2024
Sie unterrichten beide seit über 15 Jahren an der Waldorfschule Wien-Mauer. Was zeichnet diese Schule aus?
Ursula Kaufmann: Dass wir ein Umfeld schaffen, in dem Kinder und Jugendliche sich entfalten und beim Erwachsenwerden begleitet werden. Darauf ist unsere Pädagogik ausgerichtet. Das Interesse an der Welt und Umwelt zu fördern. Gestaltungsfähigkeiten werden an unserer Schule praxisnah vermittelt, vernetztes Denken gefördert, und persönliche Ausdrucksformen sowie soziales Engagement stehen im Fokus. Fremdsprachen und verpflichtende Praktika in der Oberstufe spielen bei uns deshalb eine große Rolle.
Stefan Albrecht: Ein wesentlicher Aspekt unserer Pädagogik ist, dass sie ihre Kraft aus dem kreativen, künstlerischen Zugang schöpft. Rudolf Steiner hat von der „Unterrichtskunst“ gesprochen, und so wird unsere Pädagogik auch verstanden. Nicht nur in den künstlerischen Fächern, sondern in allen Fachbereichen wie Mathematik, Physik oder Biologie.
Ursula Kaufmann: Die Waldorfpädagogik orientiert sich stark an den Entwicklungsstufen des Kindes. Neurowissenschaftliche Erkenntnisse bestätigen unseren Zugang schon lange. So werden die Lerninhalte sehr spezifisch für die jeweilige Altersstufe aufbereitet – der Lehrplan über die zwölf Jahre ist dabei wie eine Spirale angelegt, in der Lerninhalte für jeweils neue Entwicklungsstufen aufbereitet und vermittelt werden. Die Kinder lernen bei uns durch Erleben, Bewegen und Begreifen. Je älter sie werden, desto mehr geht es dann auch über das Kognitive, über das Verstehen, wobei der künstlerische Aspekt immer wichtig bleibt. Auch in der Mathematik kann viel über den künstlerischen Zugang, die proportionalen Zahlenverhältnisse in der Architektur oder die Schönheit der Zahlen vermittelt werden.
Die Lehrergehälter an Waldorf- und Montessorischulen werden in Österreich im Gegensatz zu Deutschland nicht vom Staat übernommen. Kommen freie Schulen hier nicht enorm unter Druck?
Ursula Kaufmann: Absolut, die steigenden Gehalts- und Schulerhaltungskosten bei stagnierenden finanziellen Mitteln machen den Standorten enorme Schwierigkeiten und verlangen viel Herzblut. Der Gesetzgeber erschwert schulischen Wettbewerb und straft Innovationstreiber:innen ab. Alle pädagogischen Innovationen wie fächer- und jahrgangsübergreifender Unterricht, ganztägig verschränkter Unterricht, schriftliche Beurteilungen und das Aufbrechen der 50-Minuten-Einheiten wurden an Waldorf- und Montessorischulen entwickelt und später von öffentlichen Schulen übernommen. Orchester- und Theateraufführungen sind Highlights während des Schuljahrs.
Erkennt man Waldorfschüler:innen an der Bühnenerfahrung?
Ursula Kaufmann: „Waldorfkinder“ stehen oft singend oder spielen auf der Bühne. Diese Auftritte – ob in Haupt- oder Nebenrollen, im Solo oder im Schulorchester – prägen das Selbstbewusstsein und die Ausstrahlung unserer Schüler:innen. Veranstaltungen im Jahresrhythmus sind für unsere Schule aber auch deshalb so wichtig, weil wir uns dadurch mit aktuellen Themen auseinandersetzen. Unser pädagogisches Tun findet unter keiner Glaskuppel statt. Unsere Schülerinnen und Schüler bewegen sich in einem ständigen Austausch mit ihrer Umwelt. Im besten Fall sind wir als Schule das Tor zur Welt. Wir begleiten beim Entfalten und Entdecken der eigenen Talente und eröffnen neue Themenfelder. In der Unterstufe wird ein Feld bestellt und aus dem selbst geernteten und gedroschenen Korn Brot gebacken. Es wird ein Haus gebaut und sehr viel mit den eigenen Händen erarbeitet. In den Jahren der Oberstufe gibt es viele Praktika, die jeweils zwei bis drei Wochen neue Bereiche erschließen: ein Landwirtschafts-, Forstwirtschafts,- Vermessungs-, Wirtschafts- und Sozialpraktikum stehen im Lehrplan. Darüber hinaus finden noch zahlreiche Veranstaltungen wie der Adventbasar, Theaterstücke, Singabende und der Ball der zwölften Klasse statt, die immer auch von den Klassen gestaltet werden.
Muss man künstlerisch begabt sein, um eine Waldorfschule zu besuchen?
Stefan Albrecht: Jedes Kind trägt alles in sich. Wir begleiten und fördern dabei, die Talente, die schon angelegt sind, zu entfalten. Waldorfpädagogik ist eine sehr künstlerische Pädagogik, aber nicht primär auf die Kunstfächer ausgerichtet.
Ursula Kaufmann: Wir glauben, dass jedes Kind unendliche Talente hat, und schauen, was sich bei ihm entfalten will und was ihm in seiner Entwicklung guttut. Wenn ein Kind sehr schüchtern ist, jagen wir es natürlich nicht vom ersten Tag an auf eine Bühne. Aber es kann auch ein großes Erfolgserlebnis sein, wenn so ein Kind dann merkt: „Oh, ich kann das auch.“
Gibt es in dieser Schulform ein klassisches Sitzenbleiben?
Ursula Kaufmann: Wir richten die Aufmerksamkeit auf die Stärken der Kinder, nicht auf ihre Defizite. Wenn ein Kind in einem kognitiven Fach seine Ziele nicht erreicht hat, hat es dafür vielleicht in einem anderen Bereich, wie Werken, einem Bewegungsfach oder einer Bühnenshow, etwas Besonderes erreicht. So können wir alles, was da ist, in jedem Kind zum Vorschein bringen – und dort, wo es Unterstützung braucht, ermutigen und sagen: „Komm, probierʼ es noch mal!“ In der Oberstufe geht es klar in Richtung Matura und über 90 Prozent unserer Schülerinnen und Schüler maturieren. Als Gesamtschule können bei uns aber auch jene Kinder im Klassenverband bleiben, deren Leistungen nicht unmittelbar für die Matura reichen.
Das klingt nach einer Schule ohne Notendruck …
Ursula Kaufmann: Es ist ein Klischee, dass Waldorfpädagogik Laissez-faire ist. Wir haben zwar keinen Notendruck, aber wir spornen unsere Schüler:innen zur Leistung und Selbstentfaltung an und dazu, ihr Potenzial auszuschöpfen. Bis zur Oberstufe stehen detaillierte, sehr umfangreiche verbale wie schriftliche Beurteilungen aller Lehrenden im Vordergrund, ab der Oberstufe gibt es auch ein Notenzeugnis. Diejenigen, die die Matura machen möchten, besuchen nach der Oberstufe noch für ein Jahr ein Abendgymnasium, weil unser Abschlusszeugnis nicht als Äquivalent für ein AHS-Zeugnis anerkannt wird, obwohl wir unser Öffentlichkeitsrecht auf Basis eines Lehrplanvergleichs mit der AHS haben. Wir hören regelmäßig und laufend von den dortigen Lehrer:innen, dass unsere Schüler:innen dort sehr willkommen sind, weil sie so begeisterungsfähig und wissbegierig sind.
Stefan Albrecht: Sie erkennen unsere Schüler:innen meist daran, dass sie ausgesprochen wach und kreativ sind, im positiven Sinne kritisch, und viele Fragen stellen. Am Ende einer Schulzeit in der Waldorfschule Mauer ist man jedenfalls kein Mensch, der zum unhinterfragt Auswendiglernen erzogen wurde – wir sind das Gegenprogramm. Unsere Kinder lernen für sich und fürs Leben. Diesen Ansatz praktiziert die Waldorfpädagogik seit 100 Jahren und er wurde durch neurowissenschaftliche Erkenntnisse bestätigt: Aktives, selbstgesteuertes Lernen führt zu einer tieferen Verarbeitung des Gelernten und besserer Gedächtniskonsolidierung.
Als Musiklehrer begleiten Sie die Klassen über einen langen Zeitraum. Schafft das ein besonderes Vertrauensverhältnis?
Stefan Albrecht: Ja. Unsere Klassengemeinschaft ist im Idealfall zwölf Jahre lang dieselbe – von der Volksschule an. Teils sogar schon vom Kindergarten weg. So lässt sich ein schöner pädagogischer Bogen spannen, der dem jeweiligen Entwicklungsschritt und damit dem Tempo des Kindes angepasst ist. Wenn man als Lehrer mit der nötigen Begeisterungsfähigkeit Kinder und Jugendliche so lange begleiten kann, gibt das viel Halt und sorgt für Stabilität.
Was möchten Sie als Pädagog:innen den Schülerinnen und Schülern für die Zeit nach der Schule mitgeben?
Stefan Albrecht: Als Musiklehrer die Freude daran, Musik zu machen, zu singen, zu spielen. Darüber hinaus aber das Interesse für künstlerisches Gestalten in allen Lebensbereichen. Wir geben ihnen an unserer Schule dafür den Raum und die Zeit.
Ursula Kaufmann: Dass sie als eigenständig denkende Menschen in der Welt stehen. Eigeninitiative, Verantwortung und Begeisterungsfähigkeit sollen den jungen Menschen erhalten bleiben. Mein tiefstes Credo ist, dass Erziehung immer auch Beziehung ist. Rudolf Steiner hat sinngemäß gesagt: Wenn jemand selbst ein Lernender ist, ist er ein glaubhafter Lehrender. In diesem Sinne möchten wir authentische Vorbilder sein, die junge Menschen darin bestärken, die Welt ein Stück besser und lebenswerter für alle gestalten zu können.