Die vier Oberstufenjahre an der Waldorfschule Wien-Mauer
Auch in der Oberstufe dreht sich Wesentliches darum, Beziehungen zur Welt zu knüpfen. Dahinter steht die Auffassung, dass Bildung das Bemühen ist, die Welt zu verstehen und selbstbewusst in ihr zu handeln. Im Kontakt mit anderen Menschen, im sozialen Lernen und im Tätigwerden, lernen die Schüler:innen auch sich selbst kennen und verstehen.
Die vier Oberstufenklassen beschreiten dabei verschiedene Wege, in Abhängigkeit der Möglichkeiten, die der jeweiligen Altersstufe besonders entsprechen.
So stehen in der 9. Klasse stark subjektive Zugänge im Mittelpunkt, mit Fug und Recht, denn als Menschen verfügen wir, im Gegensatz zu Maschinen und KI über Empfindungen, die gelebt werden sollen.
Die 10. Klasse schlägt gerne einen diametralen Weg ein: Jetzt geht es um Objektivität, eine Fähigkeit, die wir lernen müssen und brauchen, um in der Welt zu bestehen. Wie sollten wir das schaffen, wenn wir nicht einen Blick für ihre Strukturen und Gesetze entwickeln?
In der 11. Klasse wird die Rationalität der 10. Klasse um das Phänomen der Irrationalität erweitert: Nicht alles ist planbar und berechenbar, es bleiben Unschärfen und offene Fragen. Wie können wir als Menschen damit umgehen lernen?
Die 12. Klasse lädt jede Schülerin und jeden Schüler dazu ein, mit den erworbenen Fähigkeiten eigene Positionen und Gestaltungsimpulse zu finden und somit ein Stück Zukunft langsam zu bauen zu beginnen.
Unterrichtsgegenstände
Die Waldorfschule Wien-Mauer bietet in der Oberstufe den üblichen Fächerkanon einer allgemeinbildenden höheren Schule. Zusätzlich gibt es ein breites Spektrum handwerklicher und künstlerischer Fächer.
Praktika
Praktika haben in der Oberstufe einen sehr hohen Stellenwert. Sie fördern die Persönlichkeitsbildung und ermöglichen den Jugendlichen, ihre Fähigkeiten anzuwenden, sich zu erproben, zu spüren, dass sie gebraucht werden.
In der 9. Klasse findet zu Beginn des Schuljahres das Landwirtschaftspraktikum im Umfang von zwei Wochen statt. Die Schüler:innen erhalten allein oder zu zweit Einblick in eine Arbeitswelt am Hof. Sie leben zwei Wochen in einer anderen Familie, lernen, sich von Gewohnheiten des eigenen Alltags zu lösen und erleben, was es heißt, eine Landwirtschaft zu betreiben.
In der 10. Klasse finden drei Praktika statt: Ein Forstpraktikum, ein Vermessungspraktikum und ein Arbeitsweltpraktikum. Im Forstpraktikum lernen die Jugendlichen praktische Arbeiten im Forst kennen. Sie erleben die Bedürfnisse der Pflanzen- und Tierwelt und setzen sich mit dem Ökosystem Wald auseinander. Im Arbeitsweltpraktikum sammeln die Schüler:innen erste Erfahrungen in einem individuell zu wählenden Arbeitsbereich. Im Vermessungspraktikum werden Kenntnisse aus der Mathematik und Geometrie angewandt: Land wird vermessen, es werden Landkarten gezeichnet. Dabei wird digital und analog gearbeitet.
In der 11. Klasse findet zu Beginn des Schuljahres ein dreiwöchiges Sozialpraktikum statt. Im Sozialpraktikum können die Schüler:innen oder Jugendlichen lernen, die eigenen Interessen zurückzustellen und sich ganz auf soziale Erfahrungen und Begegnungen unterschiedlichster Art einzulassen.
Oberstufenforen, Schüleraustausch und Reisen
Während der Oberstufenjahre finden Oberstufenforen statt, die sich vertiefend mit gesellschaftlichen Themen wie Demokratie, Wirtschaft und Sozialleben auseinandersetzen.
Die Möglichkeit eines Auslandssemesters oder -jahres besteht und wird von der Schule unterstützt.
Die Schüler:innen der 11. Klasse nehmen jedes Jahr an der MoRaH Reise nach Auschwitz teil.
Am Ende der 12. Klasse findet als letzter gemeinsamer Höhepunkt der Klassengemeinschaft eine von Pädagog:innen begleitete Kunstreise ins Ausland statt.
Bühnenerfahrung
In der 9. Klasse arbeiten die Schüler:innen in Schneidern an ihren eigenen Kleidungsstücken, die Ende des Schuljahres in Form einer Modenschau auf der Schulfeier präsentiert werden. Die Modenschau wird von Schüler:innen selbst moderiert, sie wählen Musik aus und überlegen sich ein Konzept.
Die 11. Klasse zeichnet der Singabend aus, in dem die Jugendlichen gemeinsam ein musikalisches Programm für einen Abend entwickeln und individuell an ihrem eigenen Stück arbeiten. Das erfordert Durchhaltevermögen bei den Proben, den Mut, sich auf die Bühne zu stellen und ein Lied zu singen sowie die Bereitschaft und Offenheit, etwas sehr Persönliches mit dem Publikum zu teilen.
In der 12. Klasse entwickeln die Jugendlichen nicht nur ihre praktisch-künstlerischen Jahresarbeiten, sondern auch ihren Eurythmieabschluss und ein Theaterstück. Im Eurythmieabschluss werden individuell gewählte Themen aufgegriffen und Choreografien wie auch ein stimmiges Bühnenbild entwickelt. Die Jahresarbeiten werden vor Publikum öffentlich in Form einer mündlichen Präsentation vorgetragen und diskutiert. Mit dem 12.-Klass-Stück stehen die Jugendlichen ein letztes Mal auf der Bühne: Es wird intensiv an einem Theaterstück geprobt, das mit Ende des Schuljahres zur Aufführung kommt.
Abschlüsse
Die Jahresarbeiten der 12. Klasse sind der Abschluss der Waldorfschule. Die Schüler:innen erarbeiten sich eigenständig (in regelmäßigem Austausch mit Betreuer:innen) ein von ihnen gewähltes Thema und praktizieren dabei wissenschaftliches Arbeiten und persönliche Reflexion. Diese Jahresarbeit umfasst einen praktischen wie auch einen theoretisch-schriftlichen Teil. Beides gemeinsam wird am Ende des Schuljahres vor Publikum präsentiert und diskutiert.
Das Zeugnis der 12. Schulstufe berechtigt zum Einstieg in die 8. Klasse eines Gymnasiums. Im Verlauf eines Jahres kann dort die Matura abgelegt/erworben werden.
Ab dem Schuljahr 2024/25 wird vom Waldorfbund Österreich ein Waldorf-Zertifikat ausgestellt, welches Merkmale der vier Oberstufenjahre und den individuellen Einsatz prägnant darstellt.
(Text: Julia Lingl und Holger Finke)