Der Zeugnisspruch
Alle Schülerinnen und Schüler der 1. bis 7. Klasse erhalten gemeinsam mit dem Zeugnis einen eigens von der Klassenlehrerin oder dem Klassenlehrer ausgesuchten Zeugnisspruch. Hier erfahren Sie mehr über die Bedeutung dieses Spruchs.
Schon bevor Kinder selbst zu sprechen beginnen, lieben sie rhythmische Sprüche. Unsere acht Monate alte Enkeltochter strahlt über das ganze Gesicht, wenn ein Elternteil mit einem Sprüchlein beginnt. Die Rhythmik des gesprochenen Wortes lässt sie aufmerksamst lauschen. Kinder erkennen bald, wenn ein Spruch wiederholt wird und freuen sich darüber. Wenn sie es dann formulieren können, fordern sie dieselben Sprüche immer wieder ein und begeben sich mit ihrem ganzen Körper und ihrer ganzen Aufmerksamkeit in den Rhythmus.
Auch im Kindergarten werden Sprüche gepflegt. Sie erschaffen innere Bilder, die in Reigen, Bewegungen und Spiele umgesetzt werden. Kinder brauchen die Sprüche nicht aktiv zu üben; durch deren Wiederkehr und die kindliche Nachahmung prägen sich diese in ihnen ein. Sprüche sind ein Teil des Rhythmus, der das Kleinkind seinen Körper und die Bildekräfte entwickeln lässt.
Wenn das Kind in die Schule kommt, wird die Lehrerin die Pflege der Sprüche weiterführen. Neben dem rein spielerischen Element im Kindergarten wird nun auch der erwachte Wille mit eingebunden. Gut zu beobachten ist in der ersten Klasse dabei die Entwicklung des einzelnen Kindes, wie es sich in diese Rhythmik hineinbegibt (oder sich schwer damit tut), aber auch, wie die Klasse beim gemeinsamen Sprechen zu einem Ganzen wird.
Während eines ganzen Schuljahres, erstmals in der ersten Klasse, dann jedes Jahr, erlebt die Lehrerin ihre Klasse und die einzelnen Kinder. Es entsteht ein Bild in ihr von jedem Kind, von seinen Talenten, seinen Schätzen, die es mitgebracht hat, von den Steinen, die ihm am Weg liegen, von seinem Denken, Fühlen und Wollen und seinem Temperament. Ausgehend von diesem Bild sucht die Lehrerin nun einen Spruch für jedes Kind aus und schenkt ihm diesen für das kommende Schuljahr. Es ist ihr persönliches Geschenk für dieses individuelle Kind auf dem Weg durch ein neues Schuljahr. Nicht mehr die Klasse wird den Spruch gemeinsam sprechen, sondern jedes Kind seinen eigenen, der es beschreibt und begleitet. Der Spruch hat das Bild des Kindes zum Inhalt; er hat aber auch Laute und Rhythmen. Jedes dieser Elemente hat seine Bedeutung und spezifische pädagogische Wirkung.
Im Sommer, während der Ferienmonate, sagt das Kind den Spruch im Beisein seiner Eltern und nimmt ihn mit in den Schlaf. Die Eltern hören ruhig und andächtig zu. Wenn er dem Kind zu schwierig ist, können sie (oder die Geschwister) ihn mit dem Kind sprechen. Wie immer gehen die Eltern den Weg gemeinsam mit ihrem Kind, bis sie es dann im Herzen begleiten, während das Kind allein seinen Weg weiter geht.
Jede Woche wird das Kind im nächsten Schuljahr seinen individuellen Spruch vor der Klasse und der Lehrerin sprechen. Sie wird dem Kind helfen, wenn es die Worte noch nicht findet, wenn es zu leise spricht, die Konsonanten oder Vokale noch nicht klar artikulieren kann, oder der Rhythmus stolpert. Sie arbeitet mit dem Kind ein ganzes Jahr an seinem Spruch. Alleine vor der Klasse zu stehen und seinen Spruch aufzusagen ist eine große Herausforderung für das kleine Menschenwesen. Es ist Aufgabe des Lehrers, dass das Kind trotz Unsicherheit und Angst den Mut entwickelt, sich mit seinem Spruch zu zeigen. Dies geschieht mit Leichtigkeit, Liebe und auch Humor. Natürlich hilft es, dass jedes Kind der Klasse einmal pro Woche vorne steht. Auch lernen die anderen Kinder die Sprüche ihrer Mitschüler von Woche zu Woche besser kennen, sprechen sie innerlich schon mit und helfen gerne aus.
Jedes Jahr – vom Ende der 1. bis zur 7. Klasse – bekommt das Kind nun gemeinsam mit seinem Zeugnis einen Spruch, der von der Lehrerin einfühlsam ausgesucht wurde. Die Motive dieser Sprüche sind jeweils den Altersstufen angepasst, manchmal sind es Sprüche oder Gedichte, die es schon gibt, manchmal schreibt die Lehrerin sie selbst. In der Mittelstufe kann es angebracht sein, den Spruch auch einmal ruhen zu lassen, nachdem der Schüler ihn sich zu eigen gemacht hat.
Am Jahresende nimmt das Kind dann nicht nur seinen eigenen Spruch mit, sondern auch alle anderen. So wirken alle Sprüche bei allen Kindern mit ihrer Kraft zur Verwandlung.
Text: Elisabeth Frank "Vom Sprüchlein zum Zeugnisspruch", Juni 2019